Von linken Wangen, zweiten Meilen und letzten Hemden – ein explosiver Aufruf zum gewaltlosen Widerstand gegen Ungerechtigkeit
Darf ein Christ sich wehren? Dürfen Nachfolger Jesu unterdrückenden Systemen Widerstand leisten? Fragen, die oft diskutiert werden. Der oben stehende Bibeltext wird in diesen Diskussionen oft genannt um zu begründen, dass Christen Ungerechtigkeit ohne Aufbegehren hinnehmen müssen. Passivität wird oft als Zeugnis für die Friedfertigkeit der Christen verstanden. Was hat Jesus damit gemeint, wenn er uns auffordert, dem Bösen nicht zu widerstehen?
Im griechischen Urtext steht das Wort „antistenai“, was im Deutschen mit „widerstehen“ übersetzt wird. In modernen Übersetzungen steht manchmal: „Wehrt euch nicht…“ Was die Übersetzer außer Acht gelassen haben, ist dass antistenai in der griechischen Version des Alten Testaments der Bibel immer da benutzt wird, wo von Kriegsführung die Rede ist. Zwei Kriegsheere stehen einander gegenüber, um dann mit Waffengewalt gegeneinander zu kämpfen. Wenn Jesus hier sagt, dass man dem Bösen nicht „widerstehen“ soll, dann bedeutet dies nicht, dass man dem Bösen überhaupt nichts entgegensetzen darf, sondern, dass man auf (Waffen)Gewalt verzichten soll.
Jesus sagt: Reagiert auf Gewalt nicht mit Gewalt. Aber er rät zum Widerstand – zum gewaltlosen Widerstand. Wie dieser genau aussehen kann, macht Jesus in den folgenden drei Beispielen deutlich.
„Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin.“
Jesus rät nicht dazu, weiteren Schmerz und Erniedrigung zu suchen. Im Gegenteil, Jesus gibt hier eine kreative Anleitung, dem erlittenen Unrecht entgegenzutreten.
Zum Schlagen durfte ein frommer Jude nur seine rechte Hand benutzen. Die linke Hand benutzte man für unreine Angelegenheiten. Ein frommer Jude hätte nicht einmal mit ihr gestikuliert. Wenn man jemanden schlug, tat man es mit der rechten Hand. Wenn man jemanden auf die rechte Wange schlug, musste man den Handrücken zu benutzen. Diese Geste hatte beleidigenden, erniedrigenden Charakter. So schlug man nur Untergebene. Herren ihre Sklaven, Männer ihre Frauen, Eltern die Kinder und die Römer die Juden. Um die linke Wange eines Gegenübers zu treffen, hätte man die Faust benutzen müssen. So schlug man aber nur Gleichgestellte. Jesus wendet sich hier an unterdrückte Menschen. Und er fordert sie auf, sich aus der Opferposition heraus zu begeben.
Die linke Wange hin halten – eine irritierende Geste. Eine Herausforderung: „Schlag ruhig noch einmal zu, aber dann musst du deine Faust nehmen und damit anerkennen, dass ich dir gleichwertig bin.“ Der Geschlagene verlässt die Position des Opfers. Der Aggressor wird mit seiner ungerechten Tat konfrontiert und beschämt.
Das zweite Beispiel Jesu beschreibt eine Situation in einem Gericht. Ein Geldverleiher verklagt einen armen Mann wegen eines nicht zurückgezahlten Darlehens. Das war damals ein alltägliches Ereignis. Die Kaiser verlangten viel zu hohe Steuern, um ihre Kriege zu finanzieren. Die Reichen wollten diese Steuern umgehen und verliehen ihr Geld für Wucherzinsen an arme Bauern. Diese kamen aus der Schuldenfalle selten wieder heraus, und so verloren viele ihr gesamtes Land an die Geldverleiher. Für Geld, dass auf diese Art und Weise gewonnen wurde, mussten die Verleiher nicht so hohe Steuern bezahlen. Ein lukratives Geschäft.
Diese Ungerechtigkeit spricht Jesus an. Er wendet sich an die Armen, die bereits ihren ganzen Besitz verloren hatten, und zum Schluss auch noch die Kleider, die sie am Leibe trugen, hergeben mussten. Warum rät Jesus ihnen hier, auch noch das letzte Kleidungsstück, ihren Mantel, der ihnen nach dem Gesetz nicht abgenommen werden durfte, herzugeben?
Nacktheit war ein Tabu im Judentum. Nun war es aber so, dass die Schande weniger auf die nackte Person fiel, sondern vielmehr auf diejenigen, die die Nacktheit sahen, oder verursacht hatten. Indem der Schuldner auch noch seinen Mantel hergibt, und dann nackt im Gerichtssaal steht, wird plötzlich der Spieß umgedreht. Das System, das die Schuld verursacht hat, wird entlarvt und verantwortlich gemacht. Damit wird Veränderung möglich, gerade wenn sich große Menschenmengen an so einem Widerstand beteiligen.
Auch das dritte Beispiel Jesu ist eine Anleitung zum gewaltlosen Widerstand. „Die zweite Meile mitgehen“ bedeutet nicht, auf unangemessene Forderungen mit übermenschlicher Geduld einzugehen. Es bezieht sich wieder auf eine Ungerechtigkeit, der sich der jüdische Bürger täglich ausgesetzt sah. Die römischen Soldaten hatten jederzeit das Recht, einen Juden auf der Straße anzuhalten, damit er das Gepäck des Soldaten eine Meile weit trug. Was für eine Schikane. Der Jude war gezwungen, seine eigenen Geschäfte und Vorhaben aufzuschieben, um dem Befehl des Soldaten Folge zu leisten. Jesus rät seinen Zuhörern, noch eine Extrameile zu gehen. Aber nicht aus Nachgiebigkeit. Sich sein Gepäck für eine Meile tragen zu lassen war ein Recht des Soldaten. Sich sein Gepäck zwei Meilen tragen zu lassen hingegen strafbar. Wenn nun der Jude das Gepäck eine zweite Meile trägt, dann erobert er seine eigene Entscheidungsfähigkeit zurück und bringt den Soldaten möglicherweise in Schwierigkeiten. Der Soldat ist nun in der Position des Bittstellers. Er muss den Juden bitten, ihm sein Gepäck wieder zu geben. In Zukunft wird er es sich überlegen, ob er einem Juden wirklich sein Gepäck aufzwingen will. Eine zweite Meile mitgehen ist keine Gelegenheit fromme Gummipunkte zu sammeln. Es ist eine kreative Art des Widerstandes gegen ungerechte Gegebenheiten.
Jesus-Nachfolger dürfen sich also zur Wehr setzen, wenn sie mit Ungerechtigkeit konfrontiert werden. Doch Jesus gibt hier nicht nur eine Anleitung, wie der Einzelne mit unangenehmen Situationen seines Alltags besser umgehen kann.
Jesus redet hier zu einer großen Menge von Menschen. Was passiert, wenn Menschenmassen anfangen, auf diese Art und Weise gegen die Ungerechtigkeit in ihrer Gesellschaft anzugehen? Sie wären wirklich Salz und Licht für diese Welt.
Das Reich des Friedens, von dem Jesus spricht, findet nicht nur in der Ewigkeit statt. Jesus fordert seine Nachfolger auf, sich im hier und Jetzt für Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen. Sich der Gewalt und der Unterdrückung in ihrer Gesellschaft entgegenzustellen.
Jesus ruft weder zu Passivität noch zu Widerstand durch Gewalt auf. Er beschreibt einen dritten Weg des kreativen, gewaltlosen Widerstandes.
Der Auftrag, Jesu Evangelium in Wort und Tat zu verkünden, wird hier ganz konkret und alltagsnah. Gefangene frei zu setzen gehört zu diesem Auftrag. Es wäre zu kurz gedacht, dies auf eine rein geistliche Ebene zu beziehen. Auch die Gefangenen der Ungerechtigkeit unserer Systeme frei zu setzen, dazu fordert uns Jesus auf. Und möglicherweise hängt beides ja auch zusammen.
Literaturtipp: Walter Wink: Naming the powers/ Verwandlung der Mächte
Vielen Dank für diesen wunderbaren Text, den ich 1:1 in meinen Unterricht einbauen werde 😀
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In Physik oder Mathe? 🙂
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Religion 😉
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Aaah – das macht Sinn 😉 Da schreibst du sehr selten drüber – ist mir total entgangen.
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