
Wir wandern über den weitläufigen Strand. Mein Gatte und der jüngste Sohn sind hinter uns und sammeln Fundstücke. Der älteste Sohn und ich gehen weit voraus. Der Fritz-Hund läuft hin und her. Zu uns nach vorne und dann wieder nach hinten zu den anderen Beiden. Er ist ja aus zweierlei genetischen Gründen ein Hirtenhund: Briard und Australian Shepherd. Da hat er das im Blut, die Herde zusammenzuhalten. Wenn er kommt, stupst er liebevoll gegen die Hand oder den Oberschenkel: Hey- ihr müsst mal warten. Oder: Kommt, lasst uns zusammen zu den anderen rennen. Auf jeden Fall bekommt er so, was er braucht: 2h ordentlich Bewegung.
Der älteste Sohn will von mir alles über die Todesstrafe erfahren. Er will wissen, ob man mit dem Gesicht vor eine Wand gestellt, und von hinten erschossen wird. Und ob es das auch in Deutschland und Europa gibt. Wir sprechen über Amerika. Über Staaten, in denen dort die Todesstrafe vollzogen wird. Aus welchen Gründen jemand hingerichtet wird. Was vorher alles juristisch geschehen muss, bevor so eine Strafe überhaupt vollzogen werden kann, und dass die Öffentlichkeit durch die Presse beteiligt ist. Über den elektrischen Stuhl in jüngst vergangenen Zeiten und die heutige Todesspritze. Mehrmals versuche ich beruhigend zu betonen, dass es mehrere juristische Verhandlungen geben muss, bevor jemand zum Tode verurteilt werden kann. Nebenher gehen mir Gedanken durch den Kopf darüber, dass es sicherlich auch Hinrichtungen geben wird, die an der Justiz vorbei gehen und wie das zugehen kann, aber ich entscheide, darüber mit dem Sohn zu diskutieren, wenn er älter ist. Es ist sowieso seltsam mit dem Sohn in solchen Dingen. Schon als gerade einmal Dreijähriger fragte er mich über den Tod aus und beschäftigte sich monatelang damit. Doch bis heute ist er dünnhäutig, was Filme angeht. Wir vermeiden alles, was auch nur im Entferntesten mit Gewalt zu tun hat, und er selber entscheidet sehr sorgsam für sich, wenn er einen Film nicht mehr sehen will, und schaltet dann aus. Das kann dann auch mal ein Film sein, der von den Eltern für wertvoll und harmlos gehalten wird, wie zum Beispiel „Wir Kinder aus Bullerbü“. Trotzdem wittert er das Unrecht und die Gewalt im wahren Leben und muss darüber reden und nachdenken.
Jetzt aber beschäftigt den Sohn weiterhin die Todesstrafe durch Erschießen, und zwar vor einer Wand stehend und den Vollstrecker im Rücken habend. Ich weise ihn darauf hin, dass es da ein Kapitel in der Geschichte unseres eigenen Landes gibt, welches noch nicht allzulange her ist. Wir sprechen ein bisschen darüber, wen diese Todesstrafe damals betraf und aus welchen Gründen. Und auch darüber, dass es keine Straftäter waren, die dort hingerichtet wurden und wie willkürlich es in einem Staat zugehen kann, wenn Menschenleben gering geachtet werden und Rassismus oder Ideologien das Gedankengut der Regierenden bestimmen.
Dann reden wir über die Länder, in denen solches heute noch passiert und wie es politisch dort zugeht. Dass auch Christen in manchen Ländern solche Willkür erfahren, oder einfach Andersgläubige. Oder Menschen, die politische anders denken oder nicht ins Bild passen. Wir reden darüber, wie Gott das wohl mit der Todesstrafe sieht. Und was er getan hat, als der erste (Bruder-) Mord stattfand. Und ich bin froh, dass der Sohn die richtigen Schlüsse zieht: Gott schützt sogar den Mörder. Er möchte kein weiteres Blutvergießen.
Ich erinnere den Sohn an die Predigtreihe vor den Sommerferien: Friedensstifter. Er hatte mich gebeten, während dieser Predigtreihe im Gottesdienst sitzen zu dürfen, anstatt in den Kindergottesdienst zu gehen, weil ihn das so interessierte. Ich erinnere ihn an die einzelnen Predigten. Daran, dass Jesus auf einem Esel und nicht auf einem Streitross nach Jerusalem eingeritten ist, und was das signalisiert hat. (https://rausausderaffenfalle.wordpress.com/2018/05/31/der-prinz-des-friedens/ ) Daran, dass der Heerführer des Friedens nicht mal ein geknicktes Schilfrohr zerbrechen oder einen glimmenden Docht auslöschen würde. Daran, was hinter den Worten Jesu von der linken Wange und der zweiten Meile steht. Über den kreativen, aber gewaltlosen Widerstand, zu dem Jesus hier die Massen aufrief, die von den Römern unterdrückt wurden. ( dazu mehr hier: https://rausausderaffenfalle.wordpress.com/2018/02/28/von-linken-wangen-und-letzten-hemden// ) Wir reden über Martin Luther King und darüber, dass Gewalt immer Gewalt gebiert, und dass nur die Liebe den Hass überwinden kann. Darüber, dass Gott selbst genau so handelt: dass er uns so sehr liebt, und dass er den Hass besiegt, indem er für die stirbt, die ihn hassen und die Gewalt ausüben.
Der Sohn wird ganz aufgeregt und meint: „Auch die ersten Christen haben doch so reagiert. Zum Beispiel Tetanus!“ Ich muss ein bisschen kichern. Dann reden wir über Stephanus, und wie man drauf sein muss, um so zu sein wie er.
Am Abend muss ich an unser Gespräch zurückdenken. Und irgendwie geht mir das mit dem „Tetanus“ nicht aus dem Kopf. Nicht nur weil die Sprachverwirrung 😉 lustig ist. Sondern auch, weil es schön wäre, wenn wir alle so eine Stephanus-Impfung hätten. Eine Liebe für die Feinde. Einen Blick in den geöffneten Himmel, der überwindet. Oh nein – nicht dass wir alle Märtyrer werden müssen. Möge es niemals nötig sein. Aber dass wir im Alltag – im Großen wie im Kleinen mehr Liebe für unsere Widersacher hätten. Oder auch nur für Andersdenkende. So eine kleine Liebes-Impfung – die vielleicht auch noch ansteckend wäre. Das wäre schön.
🙂 Eine schöne Geschichte mit einer tollen Schlussfolgerung. Schön,wenn Kinder einen auf neue Gedanken bringen können 🙂
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Ein wirklich schöner Gedanke
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