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Von Krieg und Flucht, Hass und Liebe, Abstieg und Aufstieg, Minderwertigkeit und Würde, Feindschaft und Freundschaft, handelt diese Geschichte. Alles beginnt mit einem fünfjährigen Jungen. Einem Prinzen. Sein Vater Jonathan ist ein Prinz und sein Großvater Saul ist der König. Der fünfjährige Merib-Baal bekommt das Selbstbewusstsein eines Prinzen in die Wiege gelegt. Er wächst im Palast auf. Sein Name bedeutet „Kämpfer gegen Baal“* – und welcher Junge phantasiert nicht gerne davon, ein siegreicher Kämpfer gegen das Böse zu sein. Vater Jonathan und Großvater Saul ziehen ständig in den Krieg. Und wenn sie wiederkommen, jubelt ganz Jerusalem ihnen zu… Reichtum, Respekt, Gehorsam, Ehre – das alles wird diesem kleinen Jungen schon in seinen ersten Lebensjahren zuteil.
Bis ein Tag kommt, an dem sich alles ändert. Wieder einmal befinden sich Jonathan und Saul in einer Schlacht. Aber diesmal hört man keine Jubelrufe, die ihre Rückkehr und ihren Sieg verkünden. Stattdessen dringt Geschrei aus der Stadt zum Palast hinauf. Und bald schreit man auch im Palast, und Panik breitet sich dort aus: „Saul und Jonathan sind gefallen. Die Feinde komme!“ „David wird kommen und uns alle töten.“ „Flieht. Der König ist tot!“
Und wer es kann, flieht. Seine Amme ergreift Merib-Baals kleine Hand, sie laufen aus dem Palast, durch die Stadt. Hinaus aus den Stadttoren und in das Land außerhalb der Stadt. Durch die Wildnis, die Wüste und die Berge. Ein kleiner Junge kann das Tempo nicht lange halten, und die Amme nimmt ihn auf ihre Arme und rennt. Nach einiger Zeit wird auch ein Fünfjähriger eine schwere Last. Die Amme wird kraftlos, gerät ins Straucheln, immer wieder – und irgendwann auf dieser Flucht, lässt sie ihn fallen. Der Sturz ist so unglücklich, dass die Füße des Fünfjährigen gebrochen sind. Zertrümmert. Er wird nie wieder laufen können.
Dennoch erreichen sie ihr Fluchtziel. Lo Dabar. Ort ohne Worte. Ort ohne Brot. Und so ist es: ein Ort der Isolation, ein Ort ohne Kommunikation. Freiwillig kommt niemand dorthin. So weit weg, so abgeschnitten. So karg und leer. So viel Dürre. So viel Mangel. So wenig Brot.
Immerhin, man nimmt sie auf. Gewährt ihnen Unterschlupf auf Dauer. Und der kleine Junge verliert alles: Sein Zuhause. Seine Familie. Seinen Reichtum. Seine Bedeutung. Seine Kämpferfüße. Und seine Identität.
Vergiss deinen Namen. Nimm ihn nie wieder in den Mund. David darf nie erfahren, dass du lebst. Wenn er es erfährt, tötet er dich. Du bist Mephi-Boshet. Sag das. Wie heißt du? – Mephiboshet – Wo kommst du her? – Lo Dabar – Wer bist du? – Mephi Boshet…
Mephi Boshet. Das bedeutet: aus dessen Mund Schande kommt. Der Scham verbreitet. Aus dem Kämpfer gegen Baal wird Einer, der Schande und Scham verbreitet. Was für eine Tarnung. Was für ein Fall.
Und der kleine fünfjährige Junge, traumatisiert von Verlust und Flucht, von Grauen und vom Sturz, verdrängt seine wahre Identität und nimmt eine neue Identität an. Zieht Minderwertigkeit und Scham an – wie eine erste, echte Haut. Scham, Minderwertigkeit, Angst.
Angst auch vor David. Der Fünfjährige verbindet alles mit dem Namen David. Seinen Verlust. Seine Verkrüppelung. Die tägliche Bedrohung und Angst, gefunden zu werden. Und sicherlich ist da auch Hass. Hass auf den, der hinter all dem steht. Der ihn töten wird, wenn er jemals erfährt, dass er lebt.
Was Mephi-Boshet nicht weiß: Sein Vater Jonthan und David waren beste Freunde. Sein Großvater Saul und David waren beste Feinde. Jonathan aber liebte David. Sie waren noch ganz jung, und Jonathan hat David beschützt und ihm geholfen, wo er konnte. Ihn vor seinem Vater versteckt. Und einmal hat er gesagt: Mein Vater will, dass ich sein Nachfolger werde. Aber, David, ich weiß, dass du König sein wirst. Gott will es so – und ich werde dir dienen. Und Jonathan hat mit David einen Bund geschlossen. Und ein Bund – das ist eine noch tiefere Verbindung, als beste Freunde zu sein. In einem Bund versprach man sich gegenseitig. Und jedes Versprechen wurde besiegelt durch eine Zeichenhandlung, ein Ritual. So ein Versprechen durfte und konnte nicht gebrochen werden. Eines dieser Versprechen lautete: „Deine Familie ist nun meine Familie. Und wenn du stirbst, dann versorge ich deine Familie. Ja, mehr noch: ich werde für deine Kinder sorgen, und sie in meine Familie aufnehmen, als wären sie meine Kinder.“
Dieses Versprechen hatte Jonathan David gegeben. Und David hatte es erwidert. Nun ist Jonathan tot, und David der König Israels. Zunächst muss David viele Schlachten schlagen, um die Grenzen seines neuen Königreichs zu befrieden. Dann kehrt Ruhe ein. Und David kommt zur Ruhe und zum Nachdenken. Er trauert um seinen Freund Jonathan, und er erinnert sich an sein Versprechen. Was, wenn es doch noch einen Nachkommen Jonathans geben sollte? David forscht nach. Und er lässt einen Diener zu sich holen, der schon unter Saul diente. DieserDiener namens Ziba kann Auskunft geben: Ja – da ist noch einer. Ein Sohn Jonathans. Aber eure Majestät muss sich nicht beunruhigen. Er ist ein Krüppel und versteckt sich in einem gottverlassenen Kuhdorf namens Lo Dabar. Es geht keinerlei Gefahr von ihm aus.
David lässt Mephi Boshet sofort holen.
Als Mephi Boshet sieht, dass Beamte und Soldaten des Königs sich Lo Dabar nähern, überfällt ihn Panik. Die Angst mit der er seit Jahren lebt, nimmt jetzt Gestalt an: David hat von ihm erfahren, und er lässt ihn holen, um ihn zu töten.
Man nimmt ihn mit, und bringt ihn nach Jerusalem, in den Palast. Direkt vor den König. Und Mephi-Boshet zeigt seine Unterwürfigkeit und wirft sich auf den Boden, zu den Füßen seines Feindes David.
Er hört Davids Stimme: „Hab keine Angst! Ich habe deinen Vater Jonathan geliebt. Ich will ihm Ehre erweisen und dich beschenken. Alles, was deinem Großvater Saul gehörte, soll wieder in deinen Besitz kommen. Und du darfst für immer als mein Gast an meiner Tafel essen.“
Mephi-Boshet begreift nicht, was er hört. Er stammelt: „Womit verdiene ich deine Freundlichkeit. Ich bin doch vor dir nicht mehr wert, als ein toter Hund.“
Ein toter Hund. Schon ein Hund war damals nichts wert. Ein toter Hund. Eine Leiche. Ein Kadaver. Noch weniger als ein Hund. Zu nichts zu gebrauchen und nach Verwesung stinkend. Etwas, von dem man sich angeekelt abwendet, und es auf dem Müll außerhalb der Stadt werfen lässt. So sieht sich Mephi-Boshet. So ist das Bild, dass er von sich selbst hat, seit er fünf Jahre alt ist.
David geht gar nicht auf das ein, was Mephi Boshet sagt. Er hört nicht auf die Lügen. Er konzentriert sich auf die Wahrheit. Vor ihm, mit dem Gesicht auf dem Boden, liegt der verwundete Sohn Jonathans, und David wird ihm Gunst erweisen, und ihm den Platz geben, der ihm zusteht. Davids Herz neigt sich Jonathan entgegen, und seine Hand wird ihn erhöhen. Und David spricht zu Ziba: „Geh, und sorge dafür, dass alle Ländereien und Besitztümer Sauls in Mephi-Boshets Besitz übergehen. Du und deine gesamte Familie. Ihr sollt von jetzt an Mephi-Boshet dienen. Ihr werdet seine Felder bestellen und seinen Haushalt führen. Ihr werdet dafür sorgen, dass es Mephi-Boshet und den Seinen an nichts mangelt. Und trage Sorge dafür, dass er jeden Tag mit mir und meiner Familie an meiner Tafel speist – als einer meiner Söhne.“
David hält den Bund, den er mit Jonathan geschlossen hat bis ins Letzte ein. Dass er Mephi-Boshet die Besitztümer Sauls zukommen lässt, ist hier nicht einmal das bedeutendste, was Mephi-Boshet widerfährt. Die Krönung ist – ja, es ist tatsächlich eine Krönung – dass Mephi-Boshet von nun an jeden Tag mit David und seinen Söhnen an der Tafel des Königs speist. Denn die Tafel des Königs – da saß ausschließlich die königliche Familie. Auch Gäste von höchstem Rang spiesen nicht an der Tafel des Königs. Sie aßen im Sepisesaal des Königs – aber nicht an seiner Tafel. Dass Mephi-Boshet so ausdrücklich (dreimal betont es der Text) an die Tafel des Königs geladen wird, bedeutet, dass David ihn in seine Familie aufnimmt. Adoptiert. Ihn als einen seiner Söhne ansieht und ihm die gleichen Rechte verleiht. David stellt nicht nur den Reichtum und das angenehme Leben für Mephi-Boshet wieder her. Er stellt seine Würde wieder her. Die Würde als ein Königssohn.
David schenkt Mephi-Boshet seine volle Würde als Königssohn zurück. Und er gibt ihm damit seine verlorene Identität wieder.
Das ist so krass! Aus Mephi-Boshet – dem der Schande verbreitet, wird ein Mann, dessen Würde wiederhergestellt ist. Aus dem kleinen Jungen, der fallengelassen, verkrüppelt, vergessen, versteckt wurde, aus dem, der sich selbst als einen toten Hund bezeichnet, wird wieder ein Prinz, ein Königssohn. Und all das zeigt sich vor allem darin, dass er von nun an jeden Tag an der Tafel des Königs speist. Mit dem König und seinen Söhnen. Nicht als Gast – sondern als Zugehöriger. Als Bruder, als Sohn.
Wie ähneln wir doch Mephi-Boshet. Wir alle tragen etwas von ihm in uns. Einige von uns sind geflüchtet. Einige wurden fallen gelassen. Vielleicht hat man nicht deine Füße, aber vielleicht hat man deine Seele gebrochen. Es sind welche unter uns, die verstecken sich, verstecken ihr wahres Selbst, ihr wahres Gesicht – aus Angst, was passieren könnte, wenn sie zeigen, wer sie wirklich sind. Andere fühlen sich vergessen oder beraubt. Minderwertig. Und viel, viele von uns sind nicht in ihrer Bestimmung – in der Bestimmung, die eigentlich für sie vorgesehen war. Nicht in unserer wahren Identität.
Und wir haben Angst. Angst vor dem König. Angst vor dem König des Himmels und der Erde. Uns wurden schreckliche Geschichten erzählt über ihn. Was er tut, wenn er uns jemals wirklich findet. Wenn er uns findet und sieht, wer wir wirklich sind. Und wir haben diese Lügen geglaubt, weil wir es nicht besser wissen.
Vielleicht weiß unser Kopf Bescheid: Gott ist ein guter Gott. Er liebt mich. Er ist barmherzig und gnädig. Wir haben das gesungen. Und einander erzählt. Wie steht es damit bei dir?
Weiß dein Herz es schon, dass der große König dich liebt? Dass er dich ansieht als ein würdiges, wunderschönes Königskind. Dass er dir Gutes tun will. Dass er jeden Tag auf dich wartet – an einer reichen Tafel – und du Platz nehmen darfst – als Zugehörige – Zugehöriger. Als Tochter, als Sohn. Als Königskind. Weiß dein Herz es schon? Oder kniest du innerlich an irgendeinem wunden Punkt deines Herzens noch im Staub, mit dem Gesicht voller Scham zu Boden, und bezeichnest dich als einen toten Hund?
Jesus beachtet die Lügen deines Herzens nicht. Jesus spricht zu dir:
Wenn du fallengelassen wurdest – ich hebe dich auf. Wenn du zerbrochen bist – ich heile dich. Bist du von Menschen vergessen? Ich habe dich gefunden. Fühlst du dich abgschnitten? Du gehörst zu mir. Hat man dich beraubt? Ich schenke dir mehr, als du je besessen hast. Hat man dir deine Würde geraubt? Ich kleide dich in Würde. Fühlst du dich als Waise? Du bist mein Königskind. Bist du noch ohne deine Bestimmung? Ich gebe dir eine Berufung und leite dich darin. Lebst du noch an dem Ort ohne Worte und Brot? Du sollst jeden Tag mit mir an meinem Tisch sitzen und als mein Kind mit mir essen.
Gott ist gut! Gott ist gut! Gott ist gut! Glaubst du das? Glaubt dein Herz das?
Jesus spricht es dir immer wieder zu, damit auch dein Herz es glauben kann:
Du bist geliebt. Du bist unendlich geliebt. Der Vater wartet auf dich. Er liebt dich. Komm in deine Würde. Steh auf und geh. Kleide dich in deine Königswürde und lauf in die Arme deines Vaters. Er wartet auf dich. Nimm deinen Platz an seiner Tafelein, und komm in deine Identität als Tochter, als Sohn des Höchsten. Du bist sein Königskind. Amen
Predigt © Bettina Peter
Predigttext: 2. Samuel 9, 1-13 / Elberfelder Übersetzung – entnommen von bibleserver.com
Ein sehr schöner Text, offenbar als Predigt verfasst. Hier würde ich ihn aber kürzen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass er von noch mehr Menschen ganz gelesen wird. Er hat gewisse Längen, die man – ohne die Verständlichkeit einzubüßen – eindampfen könnte.
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Danke & sei herzlich gegrüßt.
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Von mir …
https://wassertiger.com/matrix/
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Danke für diesen leidenschaftlichen Predigt Impuls! Ich schliesse mich dem ersten Kommentar an. Der Schluss ist so gut und so stark, aber er riskiert wohl vor allem auch beim Zuhören etwas in der Länge der Erzählung unterzugehen, zumal vor der Predigt ja wohl auch noch der Bibeltext gelesen resp. gehört wird.
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Schöne, eindrückliche Predigt. Vielen Dank und liebe Grüsse Elisa
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Ein wundervoller Text! Du brauchst meine Geschichten doch gar nicht 😉
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Doch – und ob. Die Alterzielgruppe ist ja nochmal anders. Ich bin mal gespannt auf die Reaktionen. Aber das ist noch hin – erstmal fahren wir ja mit den Teens weg.
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