Christ_at_the_Column-Caravaggio_(c._1607)

So lautete die Überschrift eines Artikels, der kurz vor Karfreitag auf facebook gepostet wurde. Die Reaktionen waren sehr geteilt. Erstaunt haben mich die sehr wütenden Reaktionen. Einige hielten so einen Gedanken für blasphemisch. Dass der Sohn Gottes selbst sexuell missbraucht und vergewaltigt wurde, würde bedeuten, dass er nicht mehr sündlos gewesen sei. Andere behaupteten, dass es seiner Gottgleichheit und Heiligkeit widerspreche. Beide Argumente lassen mich sprachlos zurück.

Zum ersten Argument ist zu sagen, dass Menschen, die Missbrauch und/oder Vergewaltigung erleben, selbst keinerlei Schuld an dem Geschehen haben. Von Sünde ist also keineswegs zu sprechen. Das zweite Argument beinhaltet die theologisch irrige Annahme, dass Jesus, der ganz Gott und ganz Mensch zugleich war, trotz dieser Tatsache nicht wirklich ganz Mensch war. Dass Gott sich uns nicht wirklich gleich gemacht habe. Sich nicht auf die gleiche Ebene begeben hat, auf der wir Menschen uns befinden. Wer insgeheim so denkt, hat meines Erachtens das Evangelium nicht begriffen. Und auch nicht die ungeheure, und gerade deswegen so Aufsehen erregende Tatsache, dass „Immanuel – Gott mit uns“ tatsächlich ganz in unsere Schuhe geschlüpft – und noch mehr – ganz zu unserer eigenen Haut und unseren eigenen Knochen geworden ist. Dass nichts ihn von uns Menschen mehr unterschieden hat. Dass er weder mehr Macht (Vollmacht) noch irgendeine andere Sonderausstattung mitbekommen hat, als er als Säugling auf diese Erde kam. Er wusste nicht alles im Voraus. Er hatte keine besonderen Fähigkeiten. Keinerlei übermenschliche Macht. Kein Geheimwissen. Das einzige, was ihn tatsächlich von uns unterschied, war die Beziehung, die Jesus zum Vater hatte. Er wusste, wer sein Vater war. Er richtete sein Herz ungeteilt auf den Vater aus. Der Wille des Vaters war sein Wille. Und er tat nichts, was er in seinem Geiste nicht den Vater tun sah und sagte nichts als das, was er nicht vorher mit seinen Herzensohren vom Vater gehört hatte. Deshalb blieb er sündlos und deshalb wirkte er mit Vollmacht. Ansonsten war er (aus freien Stücken und aufgrund des skandalös barmherzigen Planes Gottes) ganz genau so wie wir. Ganzer Mensch mit allem drum und dran. Mit Gefühlen wie wir (Angst, Freude, Ärger, Traurigkeit, Schmerz…), mit allen körperlichen und seelischen Eigenschaften. Und deshalb war sein Körper auch antastbar. Und zwar auf allen Ebenen. Auch auf der sexuellen. Und auch hier gilt: eine Vergewaltigung oder ein Missbrauch hätten Jesus nicht weniger heilig und sündlos zurückgelassen. Denn die Schuld tragen die Täter, niemals die Opfer.

Seit 1997, ungefähr während der Mitte meines Theologiestudiums, habe seelsorgerlich mit Menschen gerabeitet, die Vergewaltigung und/oder sexuellen Missbrauch erlebt haben. Manche einmalig, andere über lange Strecken ihrer Kindheit und Jugendzeit hinweg. Manche gepaart mit körperlichen Missbrauch. Manche im Zusammenhang mit schlimmster sadistischer Folter (organisierte Gewalt / ritueller Missbrauch).

Und ehrlich gesagt, habe ich mir immer wieder die Frage gestellt, ob Jesus auch diese seelischen und körperlichen Verletzungen bis ins Letzte verstehen und nachvollziehen kann. Denn darum geht es in der Seelsorge und auch in der Theologie immer wieder: Wenn Jesus auch unsere Schmerzen getragen hat, wenn Jesus an seinem eigenen Leib und seiner Seele alles erlebt hat, was auch wir Menschen erlebt haben, wenn er jede Grausamkeit, jede Dunkelheit, jeden Abgrund, den ein Mensch erlebt hat, an seinem Leib getragen, überwunden und mit in seinen Tod genommen hat…

… wo und wie passt dann sexuelle Gewalt in diesen Zusammenhang? Für Opfer von sexueller Gewalt eine entscheidende Frage. Und bislang blieb da immer etwas offen.

Und da kommt der Artikel ins Spiel. Die Autorin bezieht sich auf Forschungsergebnisse. Die geläufige Praxis, wenn es im römischen Reich zu Kreuzigungen und zu der vorherigen Folter (die die Bibel ja nicht unerwähnt lässt) kam, beinhaltete sexuellen Missbrauch, beinhaltete auch die Penetration des zum Tode am Kreuz Verurteilten. Es war die gängige Praxis. Und es scheint mir folgerichtig. Überall da, wo ich in der Seelsorge von Folter höre, wird auch zumindest von sexueller Demütigung geredet. Systematische Folter scheint in der Regel eng verknüpft zu sein mit sexueller Gewalt. Das Opfer wird möglicherweise so noch einmal auf einer tieferen Ebene getroffen und gebrochen. Und auch in Berichten über Folter findet man diese Tatsache immer wieder. Meine persönliche Vermutung ist es, dass sich die Verknüpfung von Folter und sexueller Gewalt seit Menschengedenken immer wieder ereignet hat.

Nein, die Bibel berichtet nicht explizit davon, dass Jesus sexuelle Gewalt/Vergewaltigung erlitten hat. Die Folter, die Geißelung wird erwähnt. Und dass Jesus vollkommen nackt war. Sie hatten ihn ausgezogen, und dann während der Geißelung einen scharlachroten Mantel umgehängt, um ihn als „König“ zu verhöhnen. Und dass die ganze Truppe der römischen Soldaten anwesend war. Dass keine sexuelle Demütigung stattgefunden haben soll, erscheint mir persönlich fast unmöglich. So viele Soldaten waren da zusammen, die sich bei der Folter und der Demütigung eines zum Tode Verurteilten keine Grenzen auferlegen mussten… Ob die Bibel es unerwähnt lässt, weil es den Menschen damals soundso klar war – die gängige Praxis jedermann geläufig war? Oder sollte man bei Jesus eine Ausnahme gemacht haben? Es bleibt: die Wahrscheinlichkeit ist gegeben und meines Erachtens war sie sehr hoch. In der Kirchengeschichte hat man sich in so einigen Auffassungen und einigen Auslegungen sehr stark von dem entfernt, was der Bibeltext den ersten Christen gesagt haben dürfte. Es kamen Strömungen hinzu, die auch gerne manche Tatsachen vergessen ließen, oder als unmöglich deuteten. Und gerade das, was Sexuelles betrifft, wurde oft umgedeutet. Frauen wurden ihrer Stimme in der Kirche beraubt. Sexualität galt lange Zeit als per se sündig. Und gleichzeitig wurden Schwache und Unterlegene missbraucht und dies mit den Werkzeugen von Macht und Scham gedeckelt. Jesus wurde seltsam weltfern und nicht als wirklicher Mensch dargestellt. Das sieht man gut in der Malerei. Was hat der oft blonde und weißhäutige, weichlich wirkende Mann mit dem Lichtring über seinem Kopf, so wie er meist in der Kunst dargestellt wird,  mit dem jüdischen Mann zu tun, der über 15 Jahre lang als Zimmermann gearbeitet hatte, bevor er seinen Dienst begann, und der von da ab oft im Freien schlief und sich mit rauhen Gesellen abgab? Ich würde behaupten: nichts.

Was würde es bedeuten, wenn Jesus missbraucht und/oder vergewaltigt worden wäre? Es würde am Evangelium nichts ändern. Es würde nichts daran ändern, dass Jesus Gottes Sohn war. Es würde noch nachvollziehbarer zeigen, dass Jesus uns Menschen in Allem – ja in Allem – gleich war.

Für die Menschen, die sexuellen Missbrauch und Vergewaltigung erlebt haben, würde es so viel bedeuten. Jesus teilt meine Erfahrung. Jesus teilt diese tiefe Verletzung, die bis ins Innerste der Persönlichkeit alles zersplittert und zerfetzt. Jesus teilt das „danach“: die seelischen Belastungen, die Scham, alle inneren Schmerzen. Er versteht mich. Und er nahm all das, was er erlebte – zusammen mit meinen Erlebnissen mit in seinen Tod.

Am Kreuz Jesu ist ein spezieller Platz – ein weiter Raum – für Betroffene von sexueller Gewalt. Hier kann das Grauen erzählt und verstanden werden. Hier finden alle Gefühle ihrem Raum und ein Echo. Hier darf Wut, Trauer und Schmerz gelebt und mit Jesus geteilt werden. Und letztlich ist hier Wiederherstellung, denn Jesus ist auch unser Erlöser und unser Heiland.

Was für eine gute Nachricht! Was für ein Evangelium.

Zum vollen Menschsein Jesu: Philipper 2:
Nehmt euch Jesus Christus zum Vorbild:
Obwohl er in jeder Hinsicht Gott gleich war, hielt er nicht selbstsüchtig daran fest, wie Gott zu sein.
Nein, er verzichtete darauf und wurde einem Sklaven gleich: Er wurde wie jeder andere Mensch geboren und war in allem ein Mensch wie wir.
Er erniedrigte sich selbst noch tiefer und war Gott gehorsam bis zum Tod, ja, bis zum schändlichen Tod am Kreuz.
Darum hat ihn Gott erhöht und ihm den Namen gegeben, der über allen Namen steht.
10 Vor Jesus müssen einmal alle auf die Knie fallen: alle im Himmel, auf der Erde und im Totenreich.
11 Und jeder ohne Ausnahme wird zur Ehre Gottes, des Vaters, bekennen: Jesus Christus ist der Herr!
Jesus trug alle unsere Schmerzen: Jesaja 53:
Er war verachtet und von den Menschen verlassen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden4 vertraut5, wie einer, vor dem man das Gesicht verbirgt. Er war verachtet, und wir haben ihn nicht geachtet.
Jedoch unsere Leiden6 – er hat sie getragen, und unsere Schmerzen – er hat sie auf sich geladen.
Er wurde misshandelt, aber er beugte sich und tat seinen Mund nicht auf wie das Lamm, das zur Schlachtung geführt wird und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern; und er tat seinen Mund nicht auf10.
Der beschriebene Artikel:
https://www.feinschwarz.net/wurde-jesus-sexuell-missbraucht/?fbclid=IwAR2L0jByIugw_SLDejXJPYEg7vh3vp6JPPckOG1dz7Ip–L27-h24O7YOuk

14 Gedanken zu “Wurde Jesus sexuell missbraucht?

  1. Es ist zumindest nicht völlig abwegig, dass die Römer sowas mit ihm anstellten – sie ließen ja auch sonst keine Gewalt aus.
    Aber ich denke tatsächlich diskutieren lässt sich nicht darüber, weil es „Jesus beschmutzen“ würde. Denn so fühlt sich sexueller Missbrauch an, als wäre man beschmutzt. Und ich glaube, dass dieses Bild viele nicht ertragen könnten.

    Gefällt 2 Personen

    1. Das ist genau der Punkt. Das halten Viele nicht aus… denn es ändert etwas an ihrem Bild von Jesus. Und dieses Bld von Jesus ist etwas künstlich und meiner Meinung nach uniblisch. Ich glaube, dass es nicht so schnell in allen Kirchen als Möglichkeit gepredigt werden wird… ja. Aber es gibt bestimmt einige Seelsorger, die die Brisanz erkennen und vor allem das Tröstliche und Heilsame, was für Betroffene zu entdecken ist. Liebe Grüße!

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  2. Liebe frau Peter, ich bin eher zufällig auf Ihren Blog gestoßen. Der letzte Beitrag hat mich mit voller Wucht getroffen. Ich kann nur bestätigen, was Sie schreiben. Spontan habe ich auch etwas auf Ihrer Seite geantwortet. Ist das öffentlich? Ich bin nicht so viel im Internet unterwegs und habe da keine Ahnung. Müsste ich an den Einstellungen etwas ändern, damit nur meine Vorname erscheint?

    Herzliche Grüße In Christus verbunden Andrea Heidenreich-Forster

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  3. „Ganzer Mensch mit allem drum und dran.“ – Ja, genau. Und wirklich nur dann (und das gilt eben auch für solch schlimmes Leid und Gewalt jeder erdenklich entsetzlichen Abart) können wir die wahre, gesamte Bedeutung Jesu für uns Menschen erkennen.

    Danke für diesen ausgezeichneten und und zum Nachdenken anregenden Beitrag!

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  4. den könnte ich gleich auch noch küren. Was hab ich eigentlich die ganze Zeit gemacht, anstatt hier mitzulesen?
    Äh, ach ja, stimmt. Ich hatte Depressionen. Auch so ne Sache, die Jesus bestimmt nicht hatte.

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    1. Danke fürs Lesen und das feedback. 🙂 Ich glaube, das hatte Jesus tatsächlich nicht (ich kenne es aber) – aber Gefühle hatte er – so wie wir. Und kann unsere Gefühle, auch die krassen verstehen. Als ich „den Film“ sah, fiel es mich direkt an. Ich hab dann zwischendurch PC Spiele gemacht. Dann gewinne ich immer. Energie muss wohin – unser Gehirn ist da ja echt ein Wunder. Geht es dir inzwischen besser?

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  5. Ich halte es für irreführend über diese Theorie nachzudenken. Es gibt keinen anders in der Schrift zu dieser Vermutung. Da bleibe ich Leber bei dem was geschrieben steht. Und es steht genug geschrieben. Die entscheidende Frage ist ja nicht ob das passiert ist. Die entscheidende Frage ist, ob ich glaube dass Jesus mich in meiner Situation versteht. hat Jesus Drogen genommen? War er alkoholabhängig? Waren seine Eltern alkoholabhängig? Hat er Mobbing erlebt in seiner Familie? War Jesus homosexuell? War er eine Frau? Natürlich sind das berechtigte Fragen. Sie führen aber auf einen Irrweg. Jesus wird in Bilder gepresst, die wir meinen nötig zu haben, damit wir ihm vertrauen können und uns verstanden fühlen. Die Prämisse ist Misstrauen. Dagegen sagt der Verfasser des hebräerbriefes sehr klar und hilfreich: „Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.  Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.“ Hebr 4 Darauf dürfen und sollen wir vertrauen. Das tue ich. Das erlebe ich.

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