Foto: James Tamim / unsplash

Meine Familie fuhr jedes Jahr über Weihnachten und Sylvester zum Skifahren in die französische Schweiz. Und zwar in das recht noble Skidorado Verbier. Zu dieser Jahreszeit unbezahlbar. Doch mein Vater hatte Freunde in der Schweiz, welche ein kleines Chalet besaßen, nur 30m Fußweg von der Kabinenstation des Savoleyres entfernt, das wir für einen wunderbar niedrigen Freundschaftspreis jährlich beziehen konnten. Absoluter Luxus. Die Nebenerscheinungen waren für uns Kinder ein bisschen unangenehm, denn in so einem noblen Ort verkehrt noble Gesellschaft (Kronprinz Frederik von Dänemark und Prinz Harry werden heutzutage dort regelmäßig gesichtet), angetan mit nobler (Ski)kleidung. Mit derselben angetan waren wir mitnichten. Meine Eltern haben immer sehr sparsam gelebt. Auch in den Jahren, in denen mein Vater ein ganz gutes Gehalt hatte, lebten wir in einer Sozialwohnung, trugen nie Markenklamotten, gingen nie auswärts essen, es gab nie Schnittblumen oder ähnlichen Klimbim, und wir fuhren nie etwas anderes als einen Opel. Mein Vater sparte sich seine Reisespesen, um uns ebenjenen Skirlaub in Verbier mit Skipass rundum und drei Wochen franzsösische Atlantikküste im Sommer zu finanzieren. Außerdem haben meine Eltern immer einen Riesenanteil des Einkommens (über den Zehnten für die Gemeinde hinaus) für Familien gespendet, die auf dem Missionsfeld tätig waren. Das war eben ihre Finanzpolitik, ihr gutes Recht und im Nachhinein gesehen recht bewundernswert. Nur im damaligen „hier und jetzt“ war das für ihre Kinder ab und zu peinlich und seltsam. Zum Beispiel in Verbier. Irgendwoher organisierte abgetragene Skihosen/anzüge, die so aussahen, als stammten sie aus zwei Jahrzehnten davor für meine älteren Schwestern – und 5 Jahre später dann für mich, fielen zwischen den ganzen neumodischen, gut geschnittenen Skianzügen in Trendfarben dann doch ziemlich dolle auf, auf den Pisten Verbiers. Aber das nur so nebenbei, um das Setting zu erklären. Ansonsten hatten wir 14 Tage lang viel Spaß auf den wunderbaren Hängen und unseren Skiern.

Nun gab es aber auch mal schlechte Tage – verregnet – oder so neblig und schneeverhangen, oder so windig, dass wir pistensüchtigen Menschen auch einmal einen halben oder ganzen Tag nicht Ski fuhren. Oder die Gondeln und Lifte nicht in Betrieb waren. Dann liefen wir Mädels mit den Mädels der befreundeten Familie im Zentrum des Dorfes Verbier umher, und besuchten den einzigen Laden, der unserem Taschengeld in etwa angemessen erschien: den Schreibbedarfladen. Dort gab es entzückende Bleistifte, Kugelschreiber, Tintenroller und Radiergummis mit entzückenden bunten Motiven. Immer noch ziemlich überteuert, aber in Reichweite des Bezahlbaren. Dort gab es aber auch Verkäuferinnen, die sich, sobald du den Laden betreten hattest, mit missbilligender Miene an deine Fersen hefteten, dir auf Schritt und Tritt folgten und dich dabei beobachteten, wie du das Stifteangebot in Augenschein nahmst. Der heutige, durch die Coronamaßnahmen als angenehm empfundene übliche Sicherheitsabstand, wurde dabei mitnichten eingehalten. Ehrlich gesagt, ich kam mir meist schon hundert Meter vor dem Laden wie eine Delinquente vor. Im Laden fühlte ich mich regelrecht wie ein Knacki auf Sonderurlaub, mit sichtbaren Fußfesseln. Hätten die Damen dort mich gekannt, hätten sie gewusst, dass ich schon einmal Katjes und Zuckerwürfel aus dem Süßigkeitenschrank meiner Mutter gestohlen hatte. Sie hätten gewusst, dass ich sehr oft bei geringfügigem Verkehr über rote Ampeln lief. Dass ich Hausaufgaben im Bus oder in den Fünfminutenpausen sehr oft aus den Heften meiner fleißigen Freundinnen abschrieb. Sie hätten gewusst, dass ich keine Skrupel hatte, langweilige und sinnlose Unterrichtsstunden zu schwänzen. Sie hätten geahnt, dass ich später genausowenig Skrupel haben würde, Sitzungen auf den Bundeskonferenzen unseres Kirchenbundes, welche mir genausowenig sinnvoll erscheinen würden, zu schwänzen und stattdessen mit ehemaligen MitkommilitonInnen Kaffee trinken zu gehen. Sie hätten missbilligend die Lippen zusammengekniffen und mit den Zungen geschnalzt. Sie hätten aber auch gewusst, dass ich niemals Geld aus dem Portemonnaie meiner Mutter genommen hätte, und auch nie mehr als vier Katjes aus ebenjenem Schrank. Dass ich nie in Klassenarbeiten abgeschrieben hätte. Dass ich niemals schwarzgefahren wäre. Dass ich mich nie wegen Migräne oder leichter grippaler Infekte würde krankschreiben lassen. Und sie hätten gewusst, dass ich niemals, niemals einen Ladendiebstahl begangen hätte. Nicht damals, nicht später und auch nicht zukünftig. Sie hätten sich entspannen und ihre wertvollen Nervenkostüme und Kräfte schonen können.

Nun bin ich sicher, dass wir auf diese Damen höchst auffällig wirkten, denn erstens sprachen wir Deutschlanddeutsch, und zweitens stach unsere Alltagskleidung beim „shoppen“ in Verbier ebenso hervor wie auf der Piste. Keine Pelzmäntelchen, keine Markenwinterjacken, keine teuren Sonnebrillen und Schuhe. Billige Kleidung, die schon die älteren Geschwister getragen hatten. Wir waren vermutlich tatsächlich sehr verdächtige Erscheinungen im damaligen Verbier. Dass wir streng erzogene Töchter aus Brüdergemeindendynastien waren, die schon alleine dafür Schuldgefühle verspürten, dass andere Leute in anderen Ländern hungern mussten und das alles ganz bestimmt auch mit uns (und unseren Katjesdiebstählen) zu tun hatte, konnten die Stiftehüterinnen aus Verbier ja nicht ahnen.

Das war wohl eine sehr lange Hinführung zu dem, was mir heute auf dem Herzen liegt. Damals habe ich es am eigenen Leibe gespürt, wie es ist, wenn man aufgrund seines Äußeren verurteilt, verdächtigt oder herablassend behandelt wird. Mir ist inzwischen bewusst, wie oft ich die andere Position einnehme, ohne es zu merken. Dass ich nahezu ständig gefährdet bin, Menschen aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes einzuordnen. Kleidung, Hautfarbe, Beruf, Statussymbole wie Haus und Auto, Bildungsstand, erste Eindrücke. Manchmal einfach nur die Augen, die Stimme, das Gesicht. Manchmal korrigieren sich erste Eindrücke schnell, manchmal braucht es länger, um hinter die eigenen inneren Irrtümer zu kommen. Da ist der Flüchtling, der einen Hilfsjob erledigt und gebrochenes Deutsch spricht. Den du näher kennenlernst und dabei erfährst, dass er seinen Job als Chirurg aufgegeben hat, um für sich und seine Familie ein Leben in Freiheit zu wählen. Da ist meine Freundin mit der dunklen Hautfarbe und den unverkennbar afrikanischen Wurzeln, die von ihren feinen und wohl etwas rassistischen Mitmenschen gedisst wird, die nicht wissen, dass sie in Deutschland geboren wurde, dass sie vier Kinder zusammen mit ihrem norddeutschen Ehemann großzieht, als Krankenschwester auf der Coronastation arbeitet, sich gegen Menschenhandel engagiert,und mit ihrem Mann in Afrika ein Waisenhaus für Straßenkinder aus dem Boden gestampft hat und finanziert. Da ist die reiche und unnahbare Nachbarin, die wohl alles hat, was man sich nur wünschen kann und der man deshalb mit Neid und Vorbehalten begegnet, die aber sehr einsam ist und unter Depressionen leidet und sich wünschte, einfach echte Gemeinschaft zu erleben. Da ist die Frau, die wir auf unseren Besuchen in Rotlichtwohnungen getroffen haben, deren Augen aufgeleuchtet haben, als wir ganz zum Ende hin noch anboten, für sie zu beten. Die dann erzählt hat, dass sie Christin ist, und von Bekannten in eine Falle gelockt und an Zuhälter in Deutschland verkauft wurde. Die sich jetzt aus Scham und gebrochenem Selbstbild heraus kein anderes Leben mehr zutraut. Da ist der wichtige, alte, weiße Mann in der Gemeinde, der alles kontrolliert und alles Bestreben etwas zu erneuern zunichte macht, weil er „das wahre Evangelium“ beschützen möchte. Der aber zuhause Probleme mit seinem Zorn hat und seine Frau tyrannisiert, und sich in Momenten tiefster Selbstehrlichkeit mit Zweifeln plagt, ob er denn wirklich errettet ist. Da ist die Mutter und Hausfrau, die zuhause bleibt, belächelt wird, die sich aber trotz eines überragenden IQs für ein Leben zuhause entschieden hat, weil sie aufgrund einer chronischen Krankheit nur wenig Kraft hat – und diese eben dort ankommen soll, wo sie am nötigsten gebraucht wird: bei den Kindern.

Ich wünschte mir, wir alle hätten diese Superkraft, diesen Röntgenblick, der durch das äußerliche Erscheinungsbild und den ersten Eindruck hindurchdringt, und diekt ins Innere eines Menschen sehen kann. Ich wünschte mir, wir alle würden wahrgenommen und wertgeschätzt als die, die wir wirklich sind. Ich wünschte mir, es gäbe nicht so viele Schubladen, Stufen, Positionen und Wertungsskalen in unserer Gesellschaft. Ich wünschte, wir alle hätten wirklich ganz viel Toleranz für die Menschen um uns herum, weniger Etiketten und dafür offene Herzen.

In der Bibel steht, dass der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber das Herz der Menschen ansieht. Von Jesus wird uns berichtet, dass er frei war von den üblichen Einschätzungsmustern, welche die Menschen damals und heute in sich tragen. Dass er sich mit Menschen, die gemieden wurden umgab und mit ihnen aß und feierte. Dass er keine Vorurteile wegen irgendetwas hatte. Dass er in die Herzen der Menschen sehen konnte, und ihnen so begegnete, wie es ihren tiefsten Sehnsüchten entsprach. Auch deshalb liefen sie ihm hinterher, die Kinder und Frauen, die Aussätzigen und Verkrüppelten, die Prostituierten und die Zöllner. Die „Normalen“ und Gewöhnlichen. Die Lebensmüden und Lebenshungrigen. Und sogar einige Pharisäer, die sich nach mehr sehnten, als ihr rechtschaffenes, religiöses Leben ihnen bot. Sie alle spürten die unvoreingenommene Liebe, die uneingeschränkte Annahme. Sie spürten, dass jemand sie wirklich sah. Sie bis ins Innerste sah und wahrnahm. Und dass seine Arme auch dann noch offenblieben, und sein Blick auch dann noch voller Liebe war, wenn er sie zutiefst durchschaut hatte.

Die Arme des Vaters sind auch heute weit geöffnet für dich. Die Augen Jesu schauen dich voller Liebe an. So wie du bist, bist du wertgeschätzt, geliebt und willkommen.

Ein Gedanke zu “Stifte klauen in Verbier

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