
Heute ist „orange day“. Das ist mir bewusst, seitdem ich vorhin während der Autofahrt die Nachrichten gehört habe. Die Meldung lässt mich erst einmal ziemlich kalt. Seitdem ich in der Seelsorge meinen Fokus auf die Themen „sexueller und ritueller Missbrauch“ gelegt habe, rede ich dort überwiegend mit Menschen, die ebenjenen Hintergrund mitbringen. Und höre fast tagtäglich von Gewalt. Viel Gewalt. Gewalt in ihren schlimmsten Ausprägungen. Die kleinen Meldungen über häusliche Gewalt, die heute im Radio laufen, sind da doch eher peanuts. Ich erschrecke über meine Reaktion. Bin ich schon so abgestumpft? Wahrscheinlich nicht. Eher im Gegenteil. Ich bin zutiefst innerlich erschrocken, und das immer wieder neu. Es ist wohl ein Mechanismus zum Selbstschutz, der dafür sorgt, dass ich in anderen Kontexten nicht allzuviel an mich heranlasse. Denn es könnte auch ein Zuviel geben, das krank macht. Und damit wäre niemandem geholfen – und ich könnte keine Hilfe mehr sein für diejenigen, die sie bei mir suchen. Es ist ok zu filtern, entscheide ich. Es ist ok, die Radiomeldung auf dem Weg zur Boosterimpfung nicht an sich heranzulassen.
Später lese ich einen Artikel der EMMA über Gewalt im Kreisssaal. Ich denke an viele Gespräche mit Freundinnen und Bekannten, die Schreckliches während der Geburt ihrer Kinder erlebt haben und noch Jahre später damit zu tun haben. Mir ist es ähnlich ergangen. Dabei hatte ich noch gute Geburten. Meine Jungs kamen schnell und problemlos. Doch durfte ich den Ort für die Geburt meines zweiten Sohnes nicht selbst bestimmen. Anstatt ihn, so wie meinen ersten Sohn, im Geburtshaus zu bekommen, musste ich aufgrund einer Schwangerschaftsdiabetes in die Klinik. So weit so gut. Ich nahm meine Geburtshaushebamme mit und fühlte mich damit sicher. Doch durfte ich nach der Geburt wieder nicht selbst entscheiden, wer mich nähte. Mein mit Nachdruck geäußerter Wunsch, dass es meine Hebamme tun solle, die das nach der ersten Geburt so gut gemacht hatte, wurde von der Ärztin verneint. Und da sie nun einmal den Hut aufhatte, konnte niemand etwas dagegen tun. Blöd nur, dass sie dann extrem fehlerhaft genäht hat, und ich nach sechs Monaten nocheinmal eine große OP über mich ergehen lassen musste, um die Schäden zu beheben. Und blöd, dass auch das nicht gereicht hat, und Folgen bis an mein Lebensende bleiben. Gewaltvoll auch die Bemerkungen des Chefarztes im Gespräch zwei Wochen nach der Geburt. Beschwichtigend und gewaltvoll zugleich.
Wo noch erlebe ich heute Gewalt als Frau in meinem Umfeld? Des öfteren leider auch in christlichen Kreisen. Frauen dürfen nicht predigen, heißt es in mancher Gemeinde. Oder da, wo man es darf, gibt es (oft alte weiße) Männer (machmal auch junge oder alte Frauen), die dagegen sind und intrigieren. Es kommt nicht mehr so häufig vor, doch ich erlebe es immer wieder. Und ich bin nun seit 21 Jahren Pastorin und predige regelmäßig. Manchmal erstaunt es mich, wie weh es noch tut, obwohl ich es doch schon so lange gewohnt bin. Wie ich mir wünschte, ich würde einfach darüber lachen und es an mir abperlen lassen. Doch das gelingt mir nur selten. Wieviel schwieriger muss es sein, wenn die Gewalt über Worte hinausgeht. Wenn Berührungen, Schläge, Verletzungen hinzukommen? Wenn es im eigenen Haus geschieht? In der eigenen Familie? Wenn die Gewalt sexuell wird? Wenn sie sich so darstellt, dass ein Ausweg unmöglich scheint? Wenn die Gewalt lange vorbei ist, doch durch flashbacks immer wieder im Heute erlebt wird?
Ich lese einen Artikel einer Bloggerkollegin , deren Beiträge ich sehr schätze. Sie berichtet von der erlebten organisierten Gewalt. Davon, dass auch Jungen und Männer Opfer sind. Davon, dass Opfer zu Tätern werden können. Von ihrer eigenen Entscheidung gegen die Gewalt.
Wie können wir diesen Gewaltkreisläufen, die in unserer Gesellschaft stattfinden, entrinnen? Sicherlich fängt es damit an, dass wir uns selbst gegen Gewalt entscheiden. Immer wieder. Auch im Kleinen. Doch was können wir noch tun? In den Familien, Kitas, Schulen. In den Freundeskreisen und Nachbarschaften? In den Kirchen und Vereinen und Kreisssälen? Was denkt ihr? Was würde unserer Gesellschaft mehr und mehr den Nährboden für Gewalt entziehen. Was würde ihr aktiv entgegenwirken?
In JESUS CHRISTUS geliebte Schwester Bettina,
auch wenn mein Kommentar etwas verspätet erfolgt und wieder etwas Raum einnehmen wird, möchte ich mit einem DANK an dich beginnen: es ist großartig, dass du immer wieder auf Themen aufmerksam machst, die wir lieber umgehen, weil sie uns einfach auf´s Unangenehmste berühren und das Leid dieser Gewaltarten ein Ausmaß hat, dass wir vielleicht lieber nicht wahrhaben wollen, was aber Realität ist.
Antwort(en) auf deine Fragen, was wir tun können:
Hinschauen, die Betroffenen im Rahmen der für sie annehmbaren Möglichkeiten aktiv unterstützen, sich zu outen und sich vor allem von den häufig mitschwingenden (Selbst-)Schuld- und >ich habe es nicht anders verdient<-Gedanken und -Gefühlen zu befreien; dran bleiben, sich Zeit nehmen, zuhören, kontinuierlich den Heilungsweg beschreiten, der oftmals wegen der schwerwiegenden Identitätsstörung nur in kleinen Schritten erfolgen kann und durch die meistens vorhandenen flashbacks auch Rückschritte beinhaltet. Weiterhin ist eine übersteigerte Erwartungshaltung sowohl der Betroffenen als auch der Begleiter zu vermeiden auch in Bezug auf emotionale Abhängigkeiten, und das schwerwiegende Leid braucht oftmals auch eine übernatürliche Unterstützung, das, was die Welt und kein Mensch in diesem Umfang geben kann, wobei ich beim Glauben an JESUS CHRISTUS angekommen bin; sich auf den Weg zu machen, mit IHM und Seinem Wesen in eine intensive Beziehung zu treten: – Ich bin als Licht gekommen, um in dieser dunklen Welt zu leuchten, damit alle, die an mich glauben, nicht im Dunkel bleiben. – Johannes-Evangelium 12,46. Und beten, beten, beten, kühn & mutig, Fürbittegebete, Vergebungsgebete, Befreiungsgebete, Lobpreisgebete… Die vorangegangenen Ausführungen basieren auf meinen eigenen Erlebnissen und Erfahrungen und haben sicherlich keine Allgemeingültigkeit, da jeder einzelne Fall so unterschiedlich ist wie die Menschen ohnehin.
Der Allerhöchste segne dich und deine Familie. Freuen wir uns auf die Ankunft unseres HERRN und Vaters = kleine Ergänzung, ein Beispiel zu – im Rahmen annehmbarer Möglichkeiten – : die Worte Herr und Vater kamen mir lange nicht über die Lippen und bereits nur das Hören dieser Worte löste schmerzhafte Erinnerungen mit fühlbaren körperlichen Schmerzen aus, doch in der gnadenvollen Liebe Gottes durfte ich es schaffen, dieser Dunkelheit zu entrinnen und stehe nun in Seinem Licht. Halleluja und Amen!
Herzlichste Grüße sendet dir
Marlies
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Danke für deine wertvollen Gedanken und Ideen, liebe Marlies ❤ ❤ ❤
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Danke dir, in JESUS CHRISTUS geliebte Bettina, doch ich muss nochmal, denn mein erster Kommentar scheint mir irgendwo das von dir gewünschte Antwort-Thema zu verfehlen :-), weil du ja nach Gewaltvermeidung gefragt hattest und ich viel über den Umgang mit Betroffenen geschrieben habe. Doch der erwähnte Beziehungs-Glaubensweg zum Ende meines ersten Kommentares traf/trifft dann doch noch das Antwort-Thema :-). Und ohne das Vorherige (Umgang mit Betroffenen) könnte das Folgende vielleicht als zu einseitig empfunden werden, doch in der Bibel finden wir die Antworten: im Alten Testament klaro schon die 10 Gebote, doch vor allem im Neuen Testament, was CHRISTUS in der Bergpredigt sagt, auch über die Feindesliebe und überhaupt im Matthäusevangelium die ganzen Kapitel 5, 6 + 7 und Kapitel 22 die Verse 37 bis 40. Es ist SEINE LIEBE die heilt und Frieden schenkt! GOTT mit uns!!!
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Ich habe neulich ein Bildchen gesehen, neudeutsch nennt man es wohl Meme.
Darauf war ein Satz an die Wand geschrieben, „Protect your daughters!“
Und eine ältere Frau davor stehend, die das gerade durchstrich und „educate your sons“ darunter schrieb.
Ich denke, das ist es.
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